Wie HR dem Rechtspopulismus entgegentreten kann
Wenn man mich als Student anlässlich des 50. Geburtstags des Grundgesetzes gefragt hätte, wie es wohl um die Demokratie in Deutschland in einem Vierteljahrhundert bestellt sein wird, so hätte ich vermutlich fragend die Stirn gerunzelt. Es lief ja nicht schlecht mit der Demokratie. Nun haben wir vor wenigen Wochen den 75. Jahrestag der deutschen Verfassung gefeiert. Deutschland steht zwar nicht vor einem Scherbenhaufen und die demokratischen Institutionen erscheinen mir insgesamt intakt. Zugleich – und darin sind sich die Mehrheit der Beobachter einig – müssen wir im Jahr 2024 durchaus bedenkliche demokratiefeindliche Entwicklungen in unserer Gesellschaft zur Kenntnis nehmen, die aus einem rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Spektrum rühren und die Gesellschaft zurecht umtreiben.
Der gesellschaftliche Hintergrund von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus
Der Ethnologe Victor Turner hat vor 60 Jahren einmal herausgearbeitet, dass Gesellschaften sich immer mal wieder in sogenannten "liminalen Perioden" befinden. Er meint damit einen gesellschaftlichen Übergang, einen Schwellenzustand, bei dem die alte Welt nicht mehr da – und die neue Welt noch nicht da ist. Turners Diagnose eines "betwixt and between", eines "nicht mehr/noch nicht", wie es der Organisationsforscher Günther Ortmann einmal nannte, ist eine durchaus treffende Charakterisierung unserer gesellschaftlichen Situationen. Wir leben in einer "schwindelerregenden Gesellschaft", unter der der Boden wankt. Die 2020er-Jahre (und schon zuvor) haben massive soziale Gleichgewichtsstörungen. Und vielen Menschen ist dadurch schwindelig geworden. Sie suchen nach Halt, sie suchen nach Orientierung, ja nach Identität – in einer Welt, die sich immer schneller dreht.
Zur Metapher der schwindelerregenden Gesellschaft gehört auch, dass diese Schwindler anlockt; Schwindler, die mit einfachen Geschichten aufwarten. Es ist nun leider so, dass je einfacher – man kann auch sagen: je dümmer – die Geschichten, desto eher verfangen sie bei manchen Menschen. Sehr beliebt sind dabei "wir-die"-Konstruktionen: "wir Deutsche oder wir Schweizer – die Ausländer"; "wir hier unten – die da oben" und so weiter. Entsprechend wird gewettert über die Medien, die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft – all das im Duktus eines Besserwissertums, einem Anti-Intellektualismus und gerne mit dem Opferpathos einer Minderheit, die sich allein schon deshalb im Recht wähnt, weil sie sich als eine Minderheit fühlt.
Das ist in etwa die gesellschaftliche Hintergrundfolie auch für die Diskussionen, die zum Thema Rechtsextremismus in Deutschland geführt werden. Wir sollten sie zur Kenntnis nehmen, uns aber zugleich keinen Bären von der Rhetorik der Rechtsextremisten und -populisten aufbinden lassen. Denn, um hier sehr klar zu sein, es steht etwas auf dem Spiel: nämlich nicht weniger als die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Warum Rechtsextremismus Demokratie und soziale Marktwirtschaft beschädigt
Unternehmen und Wirtschaftsverbänden können diese Entwicklungen aus sehr verschiedenen Gründen nicht recht sein. Da ist zunächst die Tatsache, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit der Anwerbung von ausländischen Fachkräften, die in Deutschland aus strukturpolitischen Gründen zunehmend notwendiger wird, abträglich ist. Ebenso verhält es sich spiegelbildlich auf der Investorenseite: Für Investitionen aus dem Ausland dürfte ein Rechtsruck in Deutschland nicht gerade ein Standortvorteil sein, besonders nicht im Osten des Landes. Mit Blick auf die wirtschaftspolitische Programmatik der AfD zeigt eine nähere Betrachtung zudem, dass dies maximale libertäre Fantasien sind, die hinten und vorne nicht aufgehen.
Stichhaltige ökonomische Argumente in die Diskussion einzuspeisen, ist wichtig. Es geht aber um durchaus mehr als "business” in einem engeren Sinne: Es geht um den fundamentalen Zusammenhang zwischen individueller Freiheit, einer demokratischen Ordnung und sozialer Marktwirtschaft. Walter Eucken, einer der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, charakterisierte diese Trias einmal zutreffend als die "Interdependenz der Ordnungen”. Ist eine dieser drei Säulen in Gefahr, so wanken die anderen.
Was wir von dieser Einsicht lernen können: Demokratie ist eine wesentliche Grundlage für das, was wir soziale Marktwirtschaft nennen. Beides sollte uns wichtig sein, denn das eine geht nicht ohne das andere. Unternehmen und Wirtschaftsverbände sehen die Gefahren, die von rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Strömungen für ihr Geschäft, für den Wirtschaftsstandort Deutschland und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehen, zunehmend deutlicher. Und deshalb stellt sich auch für mehr und mehr Unternehmen die Frage, welchen Beitrag sie für eine offene Gesellschaft leisten können.
Sechs Handlungsfelder für Unternehmen zur Stärkung der Demokratie
Aber was ist konkret zu tun? Welche Maßnahmen wären Unternehmen zu empfehlen, um in ein praktisches Handeln zu kommen? Wenn wir uns Antworten zu diesen Fragen annähern wollen, so bietet es sich in einem ersten Schritt an, sechs wesentliche Handlungsareale zu unterscheiden:
Erstens: Verantwortungsvolles Unternehmertum kann nur auf der Basis profunder Unternehmenswerte realisiert werden. Sie markieren einen normativen Kompass des Unternehmerischen, denn sie sind grundlegend für strategische Entscheidungen ebenso wie im tagtäglichen operativen Geschäft. Ohne Unternehmenswerte segelt eine Firma wie ein Schiff orientierungslos auf hoher See, muss sich stetig veränderten Winden anpassen und verliert das Ziel aus den Augen – und die Mannschaft mit der Zeit ebenso.
Demokratische Werte sind, zweitens, wesentlich für einen solchen Kompass, denn eine demokratische Ordnung stellt für Unternehmen in einer Sozialen Marktwirtschaft die Bedingungen der Möglichkeiten des Wirtschaftens überhaupt dar. Ein Eintreten für Demokratie ist nicht nur in einem wohlverstandenen Eigeninteresse von Unternehmen sinnvoll, sondern auch eine Verantwortung von Unternehmen: Verantwortung in der Gesellschaft, Verantwortung für die Gesellschaft.
Aus diesen wichtigen Eckpunkten leiten sich weitergehend Fragen zur Gestaltung von, drittens, Geschäfts- und Stakeholder-Beziehungen ab, ergeben sich, viertens, wichtige Hinweise für eine glaubwürdige und authentische Kommunikation nach außen sowie, fünftens, für ein wirksames Unternehmensengagement.
Das aber vermutlich wichtigste Themenfeld unternehmerischen Handelns für eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft betrifft, sechstens, Maßnahmen innerhalb der eigenen Organisation. Hier gilt es, das Thema Rechtsextremismus nicht zu tabuisieren, sondern ihm stattdessen aktiv und konstruktiv zu begegnen. Wesentlich dafür ist die Entwicklung von Begegnungsformen und -formaten, die einen Austausch mit den Mitarbeitenden sowie der Mitarbeitenden untereinander ermöglichen.
Aus diesen sechs Handlungsarealen leiten sich zwar noch keine Maßnahmen ab. Sie lenken in ihrem Zusammenspiel den Blick auf Aktionsmöglichkeiten eines praktischen Handelns durch Unternehmen oder andere Organisationen.
Warum HR die Thematisierung von Rechtsextremismus oft scheut
Maßnahmen für eine demokratische Gesellschaft zu ergreifen, ist auch eine Aufgabe für HR – und sie ist ebenso eine für den Bereich der Organisationsentwicklung.
HR-Managerinnen und -Manager sind allein schon deshalb zu einer Beschäftigung mit dem Thema Rechtsextremismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit in ihrer Organisation aufgerufen, weil sie es ja – wie die Gesellschaft insgesamt – im Durchschnitt mit einem konkreten Problem zu tun haben: Wenn man aktuell von einer Zustimmung für die AfD von knapp 20 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung in Gesamtdeutschland ausgeht, so dürfte sich dies in ähnlicher Weise in den Belegschaften widerspiegeln. Plastischer hieße das: Einer von fünf Beschäftigten sympathisiert oder wählt die in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz als "gesichert rechtsextremistisch" eingestufte "Alternative für Deutschland". Und wenn wir auf manch ostdeutsches Bundesland blicken, dann sind wir bei jedem dritten Mitarbeitenden.
Ich höre von Unternehmen, und auch von HR-Verantwortlichen, immer wieder, dass sie die Thematisierung von Rechtsextremismus scheuen, weil sie ein Konfliktpotenzial bei der Realisierung von entsprechenden Maßnahmen sehen. Diese Bedenken sollte man ernst nehmen, denn was wir bei der gesamten Diskussion nicht vergessen sollten: Das Thema ist für Unternehmen neu, bewährte und eingeübte Praktiken gibt es kaum. In der Konsequenz führt das zu großen Unsicherheiten, die sich in einer tendenziellen Zaghaftigkeit von Unternehmen im Umgang mit der Thematik widerspiegelt.
Das betrifft im Übrigen nicht nur HR-Abteilungen, sondern es betrifft nach meiner Wahrnehmung nahezu alle denkbaren Bereiche im Unternehmen. Sollen wir bei dieser oder jener Kampagne oder Initiative mitmachen und uns als Unternehmen öffentlich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus aussprechen? Soll unser beziehungsweise unsere CEO ein Statement dazu auf Linkedin publizieren und sich dabei auch als Person positionieren? Sollen wir zur Thematik mit zivilgesellschaftlichen Akteuren zusammenarbeiten – und wenn ja, wie geht das? Es ist zunehmend die Rede von Unternehmen als politische Akteure. Was ist damit gemeint?
Es sind diese und weitere Fragen, die für viele Unternehmen Neuland sind. Genauer: Es ist ein neues Terrain, das von Unternehmen gerade betreten wird; vielleicht auch eines, in das man durch gesellschaftliche Entwicklungen hineingezogen wurde.
Die meisten HR-Managerinnen und -Manager wissen das längst (womöglich sogar besser als ihre Chefs und Chefinnen). Denn es lässt sich leicht feststellen, dass einer von fünf Beschäftigten die AfD wählt. Die Anschlussfrage muss dann aber lauten: Was ist mit der deutlichen Mehrheit der Beschäftigten aus der demokratischen Mitte? Und wie geht man mit den Mitarbeitenden um, die eine Positionierung ihres Unternehmens zum Thema Rechtsextremismus befürworten würden, womöglich sogar darauf warten?
Was ich Unternehmen und besonders HR-Verantwortlichen deshalb gerne zurufen möchte: Es kann euch passen oder nicht, ihr seid schon mittendrin! Daher kann man die Augen vor der Thematik Rechtsextremismus im Unternehmen nicht verschließen, sondern sollte ihr ganz im Gegenteil aktiv begegnen und durchaus mutig mit Formen und Formaten für konstruktive Auseinandersetzungen experimentieren.
Es braucht Orte für Austausch und Begegnung
Wie aber könnte dies aussehen? Welche Aktionsmöglichkeiten gibt es für HR, wie können organisationale Maßnahmen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus realisiert werden?
Grundlegend erscheint mir die Feststellung, dass Unternehmen mehr sind als bloße Wertschöpfungsveranstaltungen. Für Mitarbeitende sind sie Orte der Begegnung, des gesellschaftlichen Zusammenhalts und der persönlichen Entwicklung. Deshalb verbindet sich die Herausforderung für HR und Organisationsentwicklung, Unternehmenskulturen derart zu gestalten, dass Mitarbeitende als mündige Bürgerinnen und Bürger gestärkt und dazu befähigt werden, extremistischen und ausgrenzenden Weltsichten entschlossen entgegenzutreten – innerhalb der Organisation ebenso wie im Geschäftsbetrieb.
Wesentlich dafür ist die Entwicklung von Begegnungsformen und -formaten, die einen Austausch mit den Mitarbeitenden sowie der Mitarbeitenden untereinander ermöglichen. Dadurch eröffnen sich für die Beschäftigten kritische Reflexionsräume und Rückstützen für ein moralisch integres Handeln auch in herausfordernden Kontexten. Dazu gehören beispielsweise Maßnahmen zur Etablierung einer "Speak-up Culture", die es Mitarbeitenden erlaubt, fremdenfeindliche, rassistische oder andere Benachteiligungen und Anfeindungen zu artikulieren. Demokratische Lernräume, Partizipationsmöglichkeiten und vorbildhaftes Handeln der Führungskräfte können ebenfalls Werthaltungen stärken.
Wir haben die Landkarte des Handelns in einem Projekt mit der Nachhaltigkeitsberatung Scholz & Friends Reputation entwickelt und dabei vielfältige Handlungsmöglichkeiten für den Bereich „Mitarbeitende und Organisation“ herausgearbeitet. Diese Überlegungen sind eine Einladung an HR, um ins praktische Handeln zu kommen, unsere Landkarte mit Leben zu füllen – und sie dabei weiterzuentwickeln.
Thomas Beschorner ist Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen. Er zählt zu den führenden Vertretern seines Fachgebiets und schreibt regelmäßig in Die Zeit, Zeit Online, NZZ, Spiegel Online, FAZ und anderen Leitmedien im deutschsprachigen Raum. Das Booklet "Landkarte des Handelns" kann unter folgendem Link kostenlos heruntergeladen werden: www.unternehmen-fuer-demokratie.de
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