Doppelte Kindeswohlprüfung vor Erteilung des alleinigen Sorgerechts
- Bei der doppelten Kindeswohlprüfung
- muss anhand der Lebenssituation der getrenntlebenden Eltern zunächst die Möglichkeit der gemeinsamen Sorge
- und bei deren Ablehnung die vorrangige Eignung des Antragstellers geprüft werden.
Getrennte Eltern seit frühester Kindheit
Das inzwischen fast 12-jährige Mädchen musste schon viel mitmachen in ihrem jungen Leben. Ein behütetes, harmonisches Elternhaus kennt sie nicht. Ihr Vater zog aus als sie gerade mal ein Jahr alt war. Seitdem stritten sich die Eltern um sie außerhalb und vor den Familiengerichten. In den frühen Verfahren ging es um das Umgangs- und Mitsorgerecht des Vaters.
Mutter verliert das Sorgerecht
Als die Tochter sechs Jahre alt war, verschwand die Mutter mit ihr heimlich in den Iran. Ihr wurde daraufhin zunächst das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und dieses auf das Jugendamt als Vormund übertragen. Im nächsten Schritt wurde ihr
- die gesamte elterliche Sorge aberkannt und
- das Jugendamt vollständig zum Vormund bestimmt.
Wechsel zwischen Fremdunterbringung und Haushalt des Vaters
Nach ca. einem Jahr kehrten Mutter und Tochter nach Deutschland zurück. Das Jugendamt entschied nach einem persönlichen Treffen, dass das Kind in einem Kinder- und Jugendwohnheim untergebracht wird. Ein Jahr später zog das Mädchen auf dessen Veranlassung zu seinem Vater. Wieder eineinhalb Jahre später lebte es in einer betreuten Wohngemeinschaft in der Nähe der Schule.
Brandenburgisches OLG überträgt Vater das alleinige Sorgerecht
Der Vater kümmerte sich derweil darum, das alleinige Sorgerecht zu erhalten. Ihm war Erfolg beschieden, da die Tochter wegen gesundheitlicher Probleme bedingt durch Heimweh zum Vater zurückkehren wollte. Das Brandenburgische OLG beschloss letztlich , dass das Kind am besten beim Vater aufgehoben ist.
Gemeinschaftliches Sorgerecht denkbar, wenn sachliche Kommunikation gewährleistet ist
Zunächst hatte das Gericht erwogen, ob nicht ein gemeinschaftliches Sorgerecht der Eltern denkbar wäre. Das hatte es aber relativ zügig und deutlich ausgeschlossen, weil das Verhältnis zwischen den Elternteilen höchst zerrüttet und destruktiv war, was befürchten ließ, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung bezüglich der Tochter nicht möglich sein würde.
Gründliches Erforschen des Kindeswohls
Bei der Frage, ob das Kind besser bei der Mutter oder beim Vater aufgehoben ist, sind folgende Gesichtspunkte in die Prüfung mit einzubeziehen:
- wo sind Stetigkeit und Wahrung der Entwicklung des Kindes gewährleistet (Kontinuitätsgrundsatz);
- Bindungen des Kindes an beide Elternteile und etwa vorhandene Geschwister;
- der Wille des Kindes, wenn er mit seinem Wohl vereinbar ist und das Kind nach Alter und Reife zu einer Willensbildung im natürlichen Sinne in der Lage ist;
welches Elternteil ist geeignet, bereit und hat die Möglichkeiten die Erziehung und Betreuung zum Wohl des Kindes zu übernehmen (=Förderungsgrundsatz).
Wertung der Kriterien kann variieren
Es ist immer eine Einzelfallentscheidung, die nicht schematisch erfolgt. Die Wertigkeit der einzelnen Kriterien kann von Fall zu Fall differieren.
Bei der Einschätzung helfen Sachverständigengutachten von Psychologen oder Berichte des Jugendamts (wobei die Qualität der Sachverständigen teilweise zu wünschen übrig lassen, die Bundesregierung attestierte 2016 krasse gutachterliche Fehleinschätzungen bis in die obersten Instanzen → Gesetz verlangt qualifiziertere Gutachter in Familienrechtsverfahren).
Die o.g. Kriterien und Bewertung sind nichts Neues. Das Brandenburgische OLG hat mit seiner Entscheidung die Rechtsprechung des BGH bestätigt und deshalb auch die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen.
Vater war bereit und auch in der Lage, die Tochter weiter großzuziehen
Im vorliegenden Fall waren es v.a. der erste und der letzte Punkt, die für den Vater bzw. gegen die Mutter sprachen. Letztere hat keine eigene Wohnung, keine Arbeit, wirkte verwahrlost.
Der Vater hingegen lebt in geordneten Verhältnissen, hat ein Haus mit einem Kinderzimmer zu bieten, eine gute Ausbildung, die ihm die Arbeitsaufnahme ermöglicht und er war bereit, Verantwortung für seine Tochter und deren Erziehung zu übernehmen.
(Brandenburgisches OLG, Beschluss v. 19.3.2018, 10 UF 88/16).
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Hintergrund:
Mindestanforderungen an ein gemeinsames Sorgerecht gem. § 1626a BGB
Das gemeinsame Sorgerecht erfordert ein Mindestmaß an Übereinstimmung der Eltern in den wesentlichen Bereichen und ihre Kooperationswilligkeit und -fähigkeit, mithin eine tragfähige soziale Beziehung zwischen den Eltern
- Die Übertragung widerspricht aber nicht schon deshalb dem Kindeswohl, weil ein Elternteil sie ablehnt. Vielmehr muss dieser Elternteil konkrete Anhaltspunkte dafür datun, dass die gemeinsame Sorge sich nachteilig auf das Kind auswirken würde (BTDrs 17/11048, 17).
- Dies ist der Fall, wenn die Kommunikation der Eltern so schwerwiegend und nachhaltig gestört ist, dass ihnen eine gemeinsame Entscheidungsfindung nicht möglich sein wird und das Kind folglich durch die aufgezwungene gemeinsame Sorge erheblich belastet würde (BTDrs 17/11048).
- Dabei ist aber stets zu beachten, dass beide Elternteile verpflichtet sind, zum Wohl des Kindes konstruktiv und angemessen miteinander umzugehen und bereits manifeste Kommunikationsschwierigkeiten zu überwinden (BTDrs 17/11048, 17).
Leben die Eltern seit längerer Zeit zusammen, wird dies regelmäßig ein Indiz für eine gelingende Kooperation der Eltern sein und es wird des Vortrags gewichtiger Gründe bedürfen, warum eine gemeinsame Sorgetragung dennoch dem Kindeswohl widerspricht (BTDrs 17/11048, 18).
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