Einige Instanzgerichte folgen dem BGH bei der fiktiven Schadensberechnung nicht
Spätestens seit einer Entscheidung des V. Zivilrechtssenats vom März diesen Jahres gehen die Senate des BGH bei der Schadensberechnung im Kauf- und im Werkvertragsrecht unterschiedliche Wege.
Feuchtigkeitsschäden nach Immobilienkauf
Gegenstand der Entscheidung des V. Zivilsenats war eine Streitigkeit zwischen den Kaufvertragsparteien nach dem Verkauf einer Eigentumswohnung. Im Kaufvertrag hatte der Verkäufer sich verpflichtet, nach dem Verkauf auftretende Feuchtigkeitsschäden bis zu einem definierten Zeitpunkt auf seine Kosten beheben zu lassen. Als die Feuchtigkeitsschäden tatsächlich auftraten, verweigerte der Verkäufer die Beseitigung. Die Käufer klagten daraufhin über zwei Instanzen erfolgreich auf Zahlung der voraussichtlich aufzuwendenden fiktiven Mängelbeseitigungskosten.
Bausenat gewährt keinen fiktiven Schadenersatz mehr
Der Rechtsstreit landete schließlich beim V. Zivilsenat des BGH, der mit dem Problem zu kämpfen hatte, dass der VII. Werkvertragssenat seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben hat, wonach im Werkvertragsrecht der Besteller beim Auftreten von Mängeln die fiktiven Mängelbeseitigungskosten im Rahmen des sogenannten kleinen Schadenersatzes geltend machen kann.
Grund für die Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung
Die fiktive Schadensberechnung führte häufig zu einer Schadensüberkompensation und damit zu einer nach schadensrechtlichen Grundsätzen nicht zu billigenden Bereicherung des Bestellers. Diese um sich greifende Praxis beendete der Bausenat durch eine grundlegende Änderung seiner Rechtsprechung zur fiktiven Schadensberechnung (BGH, Urteil v. 22.2.2018, VII ZR 46/17 und Urteil v. 21.6.2018, VII ZR 173/16).
Werkvertragsregeln nicht auf Kaufvertrag übertragbar
Diese Rechtsprechungsänderung sagte dem Kaufvertragssenat nicht zu, hatte er doch in der Vergangenheit die von ihm auch im Kaufvertragsrecht zugelassenen Schadensberechnung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten auf die bisherige Rechtsprechung des Bausenats gestützt. Demgemäß legte der V. Senat dem VII. Senat die Frage vor, ob dieser tatsächlich an der Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung festhalten wolle. Der Bausenat gab eine überraschend harsche Antwort: Die Vorlagefrage sei eigentlich überflüssig, da Kauf- und Werkvertragsrecht aus verschiedenen Gründen nicht vergleichbar seien und die Grundsätze zur Schadensberechnung beim Werkvertrag wegen grundlegender Unterschiede der beiden Vertragstypen nicht ohne weiteres auf das Kaufvertragsrecht übertragbar seien (BGH, Beschluss v. 8.10.2020, VII ARZ 1/20).
Unterschied Nr. 1: Kein Vorschussanspruch im Kaufvertragsrecht
Nach dieser ungewöhnlich deutlichen Belehrung schloss sich der V. Zivilsenat in seiner jetzigen Entscheidung der Meinung des VII. Senats an, dass Kauf- und Werkvertragsrecht in der Frage der fiktiven Schadensberechnung nicht vergleichbar sind und unterschiedliche Rechtsfolgen rechtfertigen. Im Gegensatz zum Kaufrecht stehe dem Besteller im Werkvertragsrecht gemäß §§ 634 Nr. 2, 637 BGB für den Fall des Auftretens eines Mangels ein gesetzlicher Vorschussanspruch gegen den Vertragspartner zu. Damit sei der Besteller gegen außergewöhnliche finanzielle Belastungen infolge einer erforderlichen Vorfinanzierung von Mängelbeseitigungskosten geschützt. Eine entsprechende Vorschrift existiere im Kaufvertragsrecht nicht.
Unterschied Nr. 2: Verhältnismäßigkeitsgrenze im Kaufvertragsrecht
Anders als das Werkvertragsrecht enthält das Kaufvertragsrecht einen Schutzmechanismus für den Verkäufer, der diesen gegen eine unangemessene Überkompensation infolge einer fiktiven Schadensberechnung schützt. Gemäß § 439 Abs. 4 BGB kann der Käufer als Schadenersatz lediglich den durch den Mangel verursachten Minderwert und nicht die Kosten der Nacherfüllung in Form der Mängelbeseitigungskosten beanspruchen, wenn die Nacherfüllung mit unverhältnismäßigen Aufwendungen verbunden wäre. Auch dies rechtfertigt nach der jetzigen Entscheidung des BGH eine vom Werkvertrag abweichende Beurteilung der fiktiven Schadensberechnung im Kaufvertragsrecht.
Folge: Differenzierende Schadensberechnung nach Vertragstyp
Im Ergebnis leitet der BGH damit die unterschiedliche Behandlung der fiktiven Schadensberechnung nicht aus den allgemeinen Regeln zum Schadenersatz, sondern aus den jeweiligen Besonderheiten des Kauf- bzw. des Werkvertragsrechts ab. Aufgrund dieser unterschiedlichen rechtlichen Anknüpfungspunkte bedarf es trotz der unterschiedlichen Berechnungsmethoden der beiden Zivilsenate in diesem Fall keiner Vorlage an den Großen Senats für Zivilsachen gemäß § 132 GVG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
Revision zurückgewiesen
Im Immobilienkauffall wies der BGH daher die von den Verkäufern eingelegte Revision gegen die auf einer fiktiven Schadensberechnung beruhenden stattgebenden Urteile der Vorinstanzen zurück.
(BGH, Urteil v. 12.3.2021, V ZR 33/19).
Instanzgerichte weichen von der BGH Entsprechung ab
Die Begründung des V. Zivilsenats für die Beibehaltung der fiktiven Schadensberechnung im Kaufrecht überzeugt einige Instanzgerichte nicht. Das OLG Frankfurt und insbesondere das LG Darmstadt halten vielmehr die Begründung des VII. BGH-Senats zur Ablehnung eines fiktiven Schadensersatzanspruches im Werkvertragsrecht auch für andere Vertragstypen - das LG Darmstadt auch für das Deliktsrecht - für überzeugend.
Problem der Schadensüberkompensation auch bei anderen Vertragstypen
Der Kern der Argumentation des VII. BGH- Senats – so das OLG Frankfurt und das LG Darmstadt – zielt auf die Vermeidung einer Bereicherung des Geschädigten infolge einer Schadensüberkompensation. Das Problem der Schadensüberkompensation stelle sich in der Praxis aber in gleicher Weise bei Kaufverträgen und nach Auffassung des LG Darmstadt auch im Bereich von Verkehrsunfallsachen im Rahmen der fiktiven Reparaturkosten eines Fahrzeugs, der fiktiven Nutzungsausfallentschädigung sowie der fiktiven Abrechnung von Haushaltsführungsschäden.
Grundsatz der Naturalrestitution nicht immer gewahrt
Das LG Darmstadt betont, der Grundsatz des Schadensrechts gemäß § 249 ff BGB sei der der Naturalrestitution, d.h. der Geschädigte solle wirtschaftlich in die Lage versetzt werden, in der er sich ohne das schädigende Ereignis befände. Dieser Grundsatz beinhalte ein klares Bereicherungsverbot. Die nach dem Schadenersatzrecht unerwünschte Rechtsfolge einer Überkompensation trete in der Praxis inzwischen im Rahmen der fiktiven Schadensberechnung bei allen Vertragstypen und auch im Deliktsrecht immer häufiger ein (LG Darmstadt, Urteil v. 17.6.2021, 23 O 572/20; OLG Frankfurt, Urteil v. 21.1. 2019, 29 U183/17, wobei die Entscheidung des OLG Frankfurt den Fokus auf das Kaufrecht legt).
Ausführliche Auseinandersetzung des LG Darmstadt mit BGH-Rechtsprechung
Das LG Darmstadt bemühte für den Nachweis der nach seiner Auffassung nicht überzeugenden BGH-Logik ein Beispiel aus dem Recht des Erwerbs von Immobilien. Erwerbe ein Käufer von einem Bauträger ein Grundstück und habe der Bauträger anschließend auf dem Grundstück nach Baubeschreibung eine Immobilie zu errichten, so komme unstreitig für Mängel an der Immobilie Werkvertragsrecht zur Anwendung. Erwerbe ein Käufer das gleiche Grundstück mit der gleichen Immobilie erst, nachdem das Haus errichtet wurde, so sei allein Kaufvertragsrecht einschlägig. Nach der Rechtsprechung des BGH scheide im ersten Fall eine fiktive Schadensberechnung im Fall von Mängeln aus, im zweiten Fall sei sie ohne weiteres möglich. Diese Unterscheidung sei sachlich und rechtlich in keiner Weise gerechtfertigt.
LG verneint lehnt fiktive Schadensberechnung auch bei Verkehrsunfällen ab
Gegenstand des vom LG Darmstadt entschiedenen Fall waren Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall. Auch hier hielt das LG eine Schadensberechnung nach fiktiven Mängelbeseitigungskosten für nicht angemessen. Das LG wies darauf hin, dass die in den üblichen Sachverständigengutachten bei Verkehrsunfallsachen enthaltenen Kalkulationsberechnungen in der Regel EDV-gestützt auf Herstellerpreise und Herstellerempfehlungen abstellen, die in der Reparaturpraxis so nicht einmal von den markengebundenen Fachwerkstätten umgesetzt würden. Die hierauf gestützten fiktiven Mängelbeseitigungskosten seien daher in der Regel gemessen an der Praxis deutlich zu hoch.
BGH vermeidet Auswüchse nur unvollkommen
Nach Auffassung des LG versucht auch der BGH, Auswüchse der fiktiven Schadensberechnung zu vermeiden. So räume er im Rahmen des Schadenersatzes nach Verkehrsunfällen dem Schädiger die Möglichkeit ein, den Geschädigten unter bestimmten Voraussetzungen auf die Abrechnungssätze eines nicht markengebundenen Fachbetriebes zu verweisen. Die Beweislast für die angebliche Gleichwertigkeit des günstigeren Referenzbetriebes trage in dem Fall allerdings der Schädiger. In der Praxis komme es immer noch häufig zu einer Schadensüberkompensation.
Schadensberechnung nach vernünftiger Kostenprognose
Für wesentlich sachgerechter im Sinne des dem Schadensersatzrecht innewohnenden Restitutionsgedankens hält das LG, wenn im Rahmen der konkreten Schadensabwicklung
- das mit der konkreten Sache befasste Gericht gemäß § 287 ZPO schätzt, ob der Geschädigte einen von ihm in Rechnung gestellten Aufwand nach einer ex-ante-Betrachtung für erforderlich halten darf oder nicht.
- Das Kriterium sei, ob im Rahmen der Einzelfallbetrachtung der Geschädigte aus der objektiven Sicht eines verständigen und wirtschaftlich denkenden Menschen in vergleichbarer Lage entsprechende Aufwendungen veranlassen würde.
- Das Prognoserisiko muss nach Auffassung des OLG hierbei allerdings der Schädiger tragen, denn er habe durch einen unrechtmäßigen Eingriff in ein geschütztes Rechtsgut die Problemlage verursacht.
Restitutionsbedarf muss objektiv ermittelt werden
Das Gebot wirtschaftlich vernünftiger Schadensbehebung verlangt nach Auffassung des LG vom Geschädigten nicht, sich zugunsten des Schädigers besonders sparsam zu verhalten vielmehr gehe es um eine wirtschaftlich vernünftige Objektivierung des Restitutionsbedarfs im Rahmen des § 249 BGB. Diese Grundsätze seien im Rahmen des Schadenersatzes aus einem Verkehrsunfall sowohl auf die Frage der Wahl der Reparaturwerkstatt als auch auf die Höhe der Kompensation eines Nutzungsausfallschadens etwa bei Anmietung eines Ersatzfahrzeuges anzuwenden.
LG bezweifelt Logik der BGH-Rechtsprechung
Im Ergebnis existiert nach Auffassung des LG keine vernünftige Begründung für die inzwischen von dem fünften und dem siebten Zivilsenat des BGH praktizierte Differenzierung nach unterschiedlichen Rechtsgründen für die Schadensentstehung bei der fiktiven Schadensabrechnung. Die Gefahr einer mit den Grundgedanken der § 249 ff BGB nicht vereinbaren Schadensüberkompensation bestehe bei der fiktiven Schadensabrechnung immer, unabhängig vom Schadensgrund. Eine unter gleich eine Ungleichbehandlung von Werkvertragsrecht, Kaufrecht und anderen Vertragsprototypen im Rahmen der fiktiven Schadensberechnung sei daher rechtlich und logisch nicht begründbar.
Differenzierung des BGH findet keine Stütze im Gesetz
Auch unter gesetzessystematischen Gesichtspunkten bestehe keine Veranlassung, die Abrechnung eines Sachschadens davon abhängig zu machen, im Rahmen welches Vertragstyps oder aus welchem gesetzlichen Schuldverhältnis er entstanden ist. Die rechtlichen Regelungen der §§ 249 ff BGB differenzieren nach der Bewertung des LG bewusst nicht danach, ob ein Schadensersatzanspruch auf einem vertraglich begründeten Schuldverhältnis und den daraus folgenden Leistungsstörungsrechten oder auf deliktischen Ansprüchen beruht.
Die Instanzgerichte urteilen uneinheitlich
In der Justizpraxis führen unterschiedliche Urteile inzwischen zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit. So hält das OLG Düsseldorf die nach Vertragstypen differenzierende Rechtsprechung des BGH für überzeugend und gewährt im Kaufvertragsrecht grundsätzlich Schadenersatz auf der Grundlage einer fiktiven Schadensberechnung (OLG Düsseldorf, Urteil v. 9.10.2018, 24 U 194/17). Im Deliktsrecht hält das OLG Frankfurt - im Unterschied zum Kaufvertragsrecht - die fiktive Schadensberechnung für zulässig (OLG Frankfurt, Urteil v. 7.11.2019, 22 U 16/19), während das LG Darmstadt der von ihm vertretenen Ablehnung der fiktiven Kostenberechnung auch im Deliktsrecht bereits seit einigen Jahren treu bleibt (LG Darmstadt, Urteil v. 24.1.2020, 8 O 26/19).
Die Differenzen müssen beigelegt werden
Angesichts dieser grundlegenden Differenzen und der bewussten Abweichung einiger Instanzgerichte von der nach Vertragstypen differenzierenden Rechtsprechung des BGH verspricht die Auseinandersetzung um die fiktive Schadensberechnung noch spannend zu werden. Rechtswissenschaftlich sind noch nicht alle Argumente ausgetauscht. Es bleibt daher abzuwarten, wie sich die Rechtsprechung sich in dieser Frage weiter entwickelt. Auf bedingungslose Gefolgschaft der Instanzgerichte kann der BGH in dieser Frage offensichtlich nicht zählen.
Hintergrund: Längere Kontroverse am BGH
Der V. Zivilsenat hat mit seiner Entscheidung zur fiktiven Schadensberechnung im Kaufrecht einen seit längerem gärenden Streit mit dem VII. Senat beigelegt. Die unterschiedliche Behandlung der fiktiven Schadensberechnung im Kauf- und Werkvertragsrecht dürfte in der Praxis allerdings eine geringere Rolle spielen, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Der VII. Zivilsenat hat nämlich klargestellt, dass er beim Schadenersatz in Form des mangelbedingten Minderwertes einer Immobilie eine Schätzung der Höhe des Minderwertes anhand der voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten weiterhin für zulässig hält.
Auch das LG Darmstadt bejaht im Ergebnis einen Anspruch des Geschädigten auf eine Vorschusszahlung auf der Grundlage der aus einer vernünftigen ex-ante-Betrachtung voraussichtlich aufzuwendenden Mängelbeseitigungskosten. Im Ergebnis dürften daher die unterschiedlichen Schadensberechnungen in der Praxis häufig zu ähnlichen Ergebnissen kommen. Die Auswirkungen der unterschiedlichen Berechnungsmethoden können aber im Einzelfall auch erheblich sein, so wenn die voraussichtlichen Mängelbeseitigungskosten beispielsweise den mangelbedingten Minderwert einer Immobilie erheblich übersteigen.
BGH-Rechtsprechung zum Werkvertragsrecht
Die Bemessung des Schadensersatzes statt der Leistung (kleiner Schadensersatz) konnte nach bisheriger Rspr. des BGH und hM. grds. nach der Höhe der erforderlichen Mängelbeseitigungskosten erfolgen, unabhängig davon, ob eine Mängelbeseitigung tatsächlich durchgeführt wurde oder nicht (dann allerdings abzüglich der USt). Diese Rspr. hat der BGH mit Urteil v. 22.2.2018, VII ZR 46/17) für ab dem 1.1.2002 geschlossene Verträge (BGH, Urteil v. 19.12.2019, VII ZR 6/19) aufgegeben.
Hiernach hat der Besteller folgende Möglichkeiten, seinen Schaden zu bemessen: Er kann die Differenz zwischen dem hypothetischen Wert der durch das Werk geschaffenen oder bearbeiteten, in seinem Eigentum stehenden Sache ohne Mangel und dem tatsächlichen Wert der Sache mit Mangel ersetzt verlangen; hat er eine solche Sache ohne Mangelbeseitigung veräußert, kann er den Schaden nach dem konkreten Mindererlös wegen des Mangels der Sache bemessen. Stattdessen kann der Schaden in Anlehnung an § 634 Nr. 3, § 638 BGB auch in der Weise bemessen werden, dass ausgehend von der für das Werk vereinbarten Vergütung der Minderwert des Werks (das ist nicht wie oben die betroffene Sache, sondern meint das geschuldete Werk) wegen des (nicht beseitigten) Mangels geschätzt wird.
Aus: Deutsches Anwalt Office Premium
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