„Der Mittelstand muss sich jetzt auf den Weg machen“
Herr Velte, viele mittelständische Unternehmen wollen laut Ihrer Studie „Climate Governance“ CO2-Emissionen reduzieren. Nur wenige wollen vollständige Klimaneutralität erreichen. Bloß 40 Prozent haben eine Nachhaltigkeitsstrategie. Hinkt der deutsche Mittelstand beim Klimaschutz hinterher?
Patrick Velte: Die bisherige EU-Non-Financial-Reporting-Directive (NFRD) hält nur bestimmte Public-Interest-Entities (PIEs) zu einer nicht-finanziellen Erklärung an und bis heute haben wir keine Nachhaltigkeitsregulierung in der unternehmerischen Governance. Der Stakeholderdruck und der regulatorische Druck waren bisher nur auf große, börsennotierte Unternehmen fokussiert. Mit den neuen EU-Regulierungen ändert sich das. Die Corporate-Sustainability-Reporting-Directive (CSRD) orientiert sich am Mittelstand und bezieht unter anderem große GmbHs in die Berichtspflicht ein. Auch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) hat einen starken Bezug zum Mittelstand: Es unterscheidet nicht zwischen kapitalmarktorientierten und nichtkapitalmarktorientierten Unternehmen, die Sorgfaltspflichten beginnen ab 3.000 und nächstes Jahr ab 1.000 Arbeitnehmer:innen. Die künftige Corporate-Sustainability-Due-Diligence-Directive (CSDDD) hat ebenfalls starke Mittelstandsimplikationen hinsichtlich nachhaltigkeitsbezogener Sorgfaltspflichten in der Wertschöpfungskette. Der Mittelstand muss sich jetzt auf den Weg machen. In der aktuellen Multikrisensituation fehlen ihm aber häufig das nötige Know-how und die finanziellen Ressourcen. Viele kleine Unternehmen müssen zunächst ihre finanzielle Ertragskraft sicherstellen, eine ambitionierte Nachhaltigkeitsstrategie rückt dann leicht in den Hintergrund.
Externe Beratung oder eigene Expertise: Der nachhaltige Mittelstand
Nur 52 Prozent der befragten Unternehmen haben genug Klimaexpertise. Auch der Green-Skills-Report von LinkedIn bestätigt diesen Trend. Woher soll der nachhaltige Nachwuchs kommen?
Es ist ein zentraler Aspekt für die Implementierung einer erfolgreichen Nachhaltigkeits- oder Klimastrategie, derartige Fachkompetenz auf allen Ebenen aufzubauen, auch im Top-Management. Zum einen gibt es eine große Nachfrage nach künftigen Nachhaltigkeitsberatungsleistungen von strategischen Beratungsgesellschaften oder Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, die den Mittelstand bei der Implementierung von Prozessen, beim Verfassen von Nachhaltigkeitsberichten oder bei der Prüfung dieser Berichte unterstützen. Zum anderen kann man selbst Beschäftigte dauerhaft einstellen, die spezifische Nachhaltigkeitskompetenzen besitzen, zum Beispiel einen Chief Sustainability Officer. Gerade bei mittelständischen Unternehmen erscheint jedoch die erste Option realistischer. Sie können häufig nicht das ganze Nachhaltigkeitsportfolio selbst abdecken, sondern sind abhängig von externen Beratungsgesellschaften, welche jedoch in der Qualität schwer zu vergleichen sind. Auf jeden Fall wäre es zu begrüßen, wenn sich auch die Mittelstandsunternehmen verstärkt darum bemühen, Umwelt- und Nachhaltigkeitsexpertise dauerhaft einzukaufen und parallel Schulungen, Zertifikate oder Seminare zu nutzen. In einigen Jahren werden es diese Unternehmen hoffentlich ohne externe Hilfe schaffen, einen Nachhaltigkeitsbericht allein zu verfassen oder ein nachhaltiges Managementsystem selbständig zu verbessern.
Worauf kommt es bei einem Nachhaltigkeitsbericht an?
Um einen guten Nachhaltigkeitsbericht zu schreiben, sollten wir den Schulterschluss mit Beschäftigten in der Rechnungs- oder Finanz-Abteilung suchen, die im Unternehmen den klassischen Jahresabschluss erstellen.
In Zukunft ergibt es keinen Sinn, dass sich eine Abteilung nur um den Nachhaltigkeitsbericht kümmert und eine andere Abteilung um den Finanzbericht.
Wir brauchen Arbeit in interdisziplinären Teams und eine integrierte Steuerung von Finanz- und Nachhaltigkeitskennzahlen. So kann das Management mit den Zahlen auch selbst arbeiten, Strategien anpassen und Geschäftsprozesse verändern. Ich bin ein großer Fan der integrierten Berichterstattung und bedauere, dass die EU in der CSRD nur einen Standalone-Nachhaltigkeitsbericht als Teil des Lageberichts einfordert. Aber so schnell geht das nicht mit der integrierten Steuerung. Es wird noch viele Jahre dauern, bis wir den bisherigen Finanzbericht fit für die Nachhaltigkeitsinformationen gemacht haben und umgekehrt den Nachhaltigkeitsbericht stärker mit den Finanzkennzahlen verknüpft haben. Den Anfang bilden die Taxonomie-Verordnung und die dort enthaltenen drei umweltrelevanten Leistungsindikatoren: der Anteil der umweltrelevanten Umsatzerlöse, Kapitalaufwendungen und operativen Betriebsaufwendungen.
Grüne Betriebswirtschaftslehre: Ein Wachstumsmarkt
Letztes Jahr wurden Sie von der WirtschaftsWoche zum forschungsstärksten Betriebswirt in der DACH-Region gewählt. Kann es noch eine BWL geben, die nicht nachhaltig ist?
Umwelt und Soziales wurden an der Leuphana bereits vor über 20 Jahren teilweise in die BWL integriert. Als ich vor zehn Jahren an die Leuphana kam, gab es bereits eine eigene Fakultät für Nachhaltigkeit, einen MBA für Sustainability Management und Forschungsleuchttürme von Kolleg*innen. Seither habe ich Nachhaltigkeitsaspekte vollständig in mein Lehr- und Forschungsprogramm integriert. Eigentlich biete ich keine Lehrveranstaltungen mehr an, ohne Umwelt und Soziales zu thematisieren. In Deutschland und im europäischen Ausland richten immer mehr Universitäten und Hochschulen die BWL an nachhaltigen Themen aus. Doch es sind leider auch viele Trittbrettfahrer*innen unterwegs. Ähnlich wie in Unternehmen gibt es auch Greenwashing an Universitäten und Hochschulen:
Es reicht nicht aus, nur ein Ethik-Modul ins letzte Semester zu schieben und sich dann als nachhaltiger Studiengang zu labeln.
Man muss diese Themen in alle Funktionen der BWL integrieren: Personal, Marketing, Finanz- und Rechnungswesen sowie in der Organisation. Es bedeutet viel Arbeit, die „klassischen“ BWL-Funktionen in der Lehre um Umwelt- und Sozialaspekte zu erweitern. Klassische Finanzthemen wie Buchhaltung und Kostenrechnung bleiben zwar auch wichtig, doch eine ‚grüne‘ BWL muss soziale und umweltrelevante Themen mit den Studierenden in allen Modulen diskutieren. Wenn wir das nicht an der Leuphana täten, würden die Studierenden schnell unzufrieden werden. Die Erwartungshaltung ist gerade bei uns sehr hoch.
Wie haben sich die Karrieremöglichkeiten im Nachhaltigkeitsbereich entwickelt?
Seit Beginn des EU-Green-Deals ist das ein riesiger Wachstumsmarkt. Nachhaltige BWL-Studierende werden förmlich von den Unternehmen weggezogen. Es ist aus Sicht dieser Studierenden traumhaft, denn sie können sich ihr Unternehmen aussuchen. Früher standen wir in großer Konkurrenz mit vielen anderen Disziplinen, doch der Nachhaltigkeitsbereich in Unternehmen leidet unter einem Fachkräftemangel. Besonders in der Verknüpfung zwischen nachhaltigem Management sowie Rechnungs- und Finanzwesen, weil das in den letzten Jahren nicht viele Universitäten in integrierter Form angeboten hatten. Bei meinen Absolvent:innen beobachte ich gute Karrierewege. Studierende, die jetzt einen Bachelor und Master in nachhaltiger BWL absolvieren, haben hervorragende Karrieremöglichkeiten. Unsere Studierende haben häufig auch eine intrinsische Motivation, Nachhaltigkeitsthemen im Unternehmen direkt anzugehen, und sie gehen in der Regel nur zu Unternehmen, die Nachhaltigkeit seriös leben. Entpuppt sich Nachhaltigkeit doch nur als ein Label („Greenwashing“), sind viele Berufsanfänger*innen schnell wieder weg. Wenn ich noch einmal jung wäre, würde ich mich auch für einen ‚grünen‘ BWL-Bachelor- und Masterstudiengang entscheiden. Ich habe während meines Studiums leider nicht fachlich gelehrt bekommen, was Umwelt und soziale Themen mit dem Finanz- und Rechnungswesen zu tun haben. An der Leuphana haben wir hier entsprechende Studienprogramme implementiert.
Nachhaltigkeit und Finanzen: Ein klassischer Zielkonflikt
Viele Absolvent:innen achten beim Arbeitgeber mehr auf Nachhaltigkeit. Dennoch schauen viele Unternehmen weiterhin nur auf Finanzkennzahlen. Wie kommen Ideal und Realität zusammen?
Viele Studierende werden nach dem Studium – aber auch schon im Praktikum oder in einer Werkstudententätigkeit – auf den Boden der Tatsachen gebracht. Aus ihrem Idealismus heraus fragen sie, warum ein Unternehmen noch keine ambitionierte Klimastrategie hat. So einfach umzusetzen ist das aber teilweise auch nicht. Es gibt viele Widerstände und Konflikte, unter anderem mit den kurzfristigen Finanzzielen. Die erfolgreiche Implementierung eines Nachhaltigkeitsmanagements ist viele Jahre mit großen und risikoreichen Investitionen verbunden, die auch scheitern können.
Ein CEO, der nur wenige Jahre im Amt ist, möchte für die Nachfolgegenerationen vielleicht keine riesigen Klimainvestitionen tätigen, deren Früchte er nicht mehr selbst ernten kann.
Vielleicht zieht er sogar den Zorn kurzfristiger Shareholder auf sich und verliert Teile seines Jahresbonus. Es ist nachvollziehbar, dass bei managementgeführten Großunternehmen, die ihre Führungsriege häufig austauschen, das Risiko von symbolischen Nachhaltigkeitsaktionen ausgeprägter ist. Die börsennotierten Unternehmen arbeiten unter dem Druck der Investoren, welche zum Teil sehr nachhaltig agieren. Aber auch der Druck durch andere Stakeholder steigt, siehe die Klimaklagen durch NGOs. In den USA gibt es eine Gegenbewegung, die die originäre Aufgabe von institutionellen Investoren hinterfragt: Rendite erhöhen für die Kunden oder das Gemeinwohl der Unternehmen fördern? Es gibt also klassische Zielkonflikte im Unternehmen. Die Ideale, die wir Studierenden beibringen, wie die Stakeholder-Theorie unseres Ehrendoktors Prof. Freeman, sind nicht immer schnell und einfach im Unternehmen umzusetzen.
Und darum geht es in Teil 2 des Interviews: Wie wir Nachhaltigkeit im Unternehmen vorantreiben, vor welchen Hürden die Wirtschaftsprüfung steht und wieso Biodiversität mehr Aufmerksamkeit braucht. |
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