Freiburg: Quartiersentwicklung für die Zukunft
Es ist eins der größten Neubauquartiere, die aktuell in Deutschland geplant werden: Die Stadt Freiburg wird um einen Stadtteil in der Größe einer Kleinstadt wachsen. 110 Hektar Fläche, 6.900 Wohnungen, 16.000 Bewohner – das Quartier Dietenbach soll im Westen der Stadt entstehen. Hinzu kommen Einzelhandel, Gewerbe, Straßenbahn, Sportanlagen, Pflegeeinrichtungen, Schulen und 22 Kindertagesstätten.
Wie sollen die Gebäude der Zukunft aussehen, wie wollen Menschen wohnen und arbeiten? Wie müssen Grün- und Freiflächen gestaltet werden? Wie sieht die Mobilität der Zukunft aus? Wie muss das Leitungsnetz konzipiert sein, um mit Technologien Schritt halten zu können, die womöglich noch gar nicht erfunden sind? Mit all diesen Fragestellungen müssen sich die Stadtplaner schon heute beschäftigen. Denn bis das Neubauquartier fertig bezogen ist, werden zwei Jahrzehnte ins Land gegangen sein: Die letzten Häuser sollen 2042 fertiggestellt werden.
Freiburg-Dietenbach soll klimaneutral werden
"Wir haben keine Vorbilder, sondern wollen eines werden." Freiburgs Baubürgermeister Martin Haag
Vor allem hinsichtlich der ambitionierten Energieziele will Freiburg Vorreiter sein. Das neue Viertel soll komplett klimaneutral werden – das wäre in dieser Größenordnung ein Novum. Zwar gebe es in Deutschland bereits kleinere Siedlungen, in denen dieses Ziel erreicht worden sei, sagt der städtische Umweltschutzamtsleiter Klaus von Zahn. Aber es existierten keine größeren, klimaneutralen Quartiere mit einer derart dichten Bebauung, wie sie in Dietenbach vorgesehen sei – und wo entsprechend mehr Menschen mit alternativen Energien versorgt werden müssen als in lockerer bebauten Strukturen, trotzdem aber zum Beispiel die Dachflächen zur Solarnutzung nicht größer werden.
Um das Klimaziel zu erreichen, hat die Stadt Freiburg gemeinsam mit dem beauftragten Planungsbüro ein ausgeklügeltes Energieversorgungssystem entwickelt. Herausgekommen ist ein komplexes Zusammenspiel aus Photovoltaik (PV), einem Nahwärmesystem und einer Elektrolyseanlage, die aus erneuerbarem Strom Wasserstoff erzeugen wird. Alle Komponenten sollen dazu beitragen, dass am Ende die Klimabilanz von Dietenbach ausgeglichen ist.
Energieeffiziente Neubauten
Voraussetzung ist, dass die Gebäude an sich bereits energieeffizient gebaut werden und entsprechende Standards erfüllen, bei Wohngebäuden ist KfW 55 vorgesehen. Die Häuser werden über eine zentrale Großwärmepumpe mit 20 Megawatt Leistung mit Wärme versorgt, gewonnen wird die Energie aus Grund- und Abwasser. Die Wärme geht über Nahwärmeleitungen in die Häuser, in denen keine separaten Heizanlagen, Kessel oder Öltanks mehr notwendig sind.
In einer 30 mal 30 Meter großen Energiezentrale und in zwei kleineren "Elektrolyseuren" wird sogenannter grüner Wasserstoff gewonnen. Die Anlagen wandeln Wasser, Ökostrom und die Überschüsse aus dem in Dietenbach erzeugtem PV-Strom mittels Elektrolyse in Wasserstoff um. In den Energiezentralen entstehen dadurch pro Jahr 700 Tonnen "grüner" Wasserstoff, der durch die Produktion vor Ort umweltfreundlicher ist als solcher, der über weite Strecken transportiert wird. Genutzt werden soll der grüne Wasserstoff von örtlichen Betrieben, etwa vom Freiburger Verkehrsunternehmen oder vom Müllentsorger. Auch private Firmen haben laut der Freiburger Stadtverwaltung bereits Interesse bekundet. Durch den Prozess wird Dietenbach selbst zum Produzenten von umweltfreundlicher Energie, was positiv in die Klimabilanz einfließt. Die Abwärme, die bei der Wasserstoffproduktion entsteht, soll wiederum rund 20 Prozent des Wärmebedarfs in Dietenbach decken.
Trotz dieses innovativen Klimakonzepts dürfen auch die Kosten für den neuen Stadtteil nicht aus dem Ruder laufen – Hauptziel der Freiburger Politik ist es, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. 50 Prozent geförderte Mietwohnungen sind geplant, die Grundstücke sollen in Erbpacht vergeben werden, um Bodenspekulationen zu verhindern. Insgesamt stehen derzeit Entwicklungskosten von 850 Millionen Euro im Raum.
Mobilität: Autonome Autos und Busse?
Gedanken über die Zukunftsfähigkeit des Quartiers müssen sich die Planer auch beim Thema Mobilität machen. Niemand weiß, wie diese im Jahr 2042 aussieht, erklärt Ingo Breuker, stellvertretender Leiter der "Projektgruppe Dietenbach", bei der die Fäden für das Mammutprojekt in der Freiburger Stadtverwaltung zusammenlaufen. Gibt es etwa autonom fahrende Busse, die den Binnenverkehr im Stadtteil bereichern könnten? Die zentrale Ringstraße sei in jedem Fall so breit geplant, dass dies möglich wäre, so Breuker.
Für den Individualverkehr sehen die Planungen vier mehrstöckige Sammel-Quartiersgaragen für Autos vor. Falls das nicht reicht, könnten sie durch die vorgesehene Systembauweise durch weitere Etagen ergänzt werden. Wenn zukünftig jedoch weniger Menschen ein eigenes Auto haben, lassen sich die vorgesehenen Flächen auch anderweitig nutzen, zum Beispiel für den Wohnungsbau. Für den Fall, dass Autos zukünftig eigenständig ein- und ausparken könnten, so Breuker, wäre weniger Platz pro Fahrzeug nötig, weil der Fahrer keinen Raum zum Aussteigen braucht. Daher könnten die geplanten Stellplätze schmaler als heute ausfallen.
Am zukunftsorientiertesten und klimafreundlichsten wäre es jedoch, wenn viele Menschen ganz auf ein eigenes Auto verzichteten. Deshalb wird es in Dietenbach viele Carsharing-Stationen geben, der Stadtteil soll von Beginn an eine Straßenbahnverbindung haben und an das Freiburger Rad- und Fußwegenetz angeschlossen werden. Und damit Fahrräder, E-Bikes und Lastenvelos zuhause gut und sicher verstaut werden können, sind überproportional viele Fahrradabstellplätze geplant. Für Autos gilt lediglich ein Stellplatzschlüssel von 0,5 je Wohneinheit.
Für die zukünftig vor allem elektrische Antriebstechnik ist eine entsprechende technische Infrastruktur mit Ladesäulen vorgesehen. Dicke Kabelrohre im Untergrund ermöglichen es, den Stadtteil fit für weitere technische Entwicklungen zu machen, an die heute womöglich noch niemand denkt. Das umfasst nicht nur den Bereich Mobilität, sondern zum Beispiel auch Digitalisierung, Internet, Glasfaser & Co.
Flexibler Rahmenplan zur späteren Anpassung
Damit das neue Viertel auch in zwei Jahrzehnten noch zukunftsfähig ist, würden die Planungen insgesamt so flexibel wie möglich gestaltet, erklärt Breuker. Ein Rahmenplan zurrt das Gesamtkonzept fest, ist aber bei Bedarf anpassbar. Bei der Art der Bebauung setzten die Planer auf klassische, erprobte Strukturen. Angedacht ist vor allem eine Blockrandbebauung, wie sie auch in beliebten Gründerzeitvierteln in Freiburg vorkommen, sagt der stellvertretende Projektgruppenleiter. Zudem achteten die Planer auf flexible Grundrisse für sich eventuell in der Zukunft verändernde Wohn- und Arbeitsformen. Schließlich ist nicht gesagt, dass in ein oder zwei Jahrzehnten ein Großteil der Menschen noch täglich ins Büro fährt. Und auch die öffentlichen Gebäude sollen anpassungsfähig sein.
"Die Kita von heute kann das Seniorenzentrum von morgen sein." Ingo Breuker, stellvertretender Leiter der "Projektgruppe Dietenbach"
Damit könne ein sich wandelnder Bedarf im Laufe der Jahrzehnte aufgefangen werden. Denn in der Regel würden neue Stadtteile zunächst von vielen jungen Familien bezogen, später verändere sich die Bevölkerungsstruktur: All dies müsse sich bereits jetzt in den Überlegungen wiederfinden.
Die Bewohner sollen sich wohlfühlen
Eine wichtige Rolle spielen auch die unterschiedlichen sozialen Aspekte. Einrichtungen von Kita und Schule bis hin zu Nachbarschaftstreff, Sportflächen und Kirche müssen mit geplant werden. "Die Menschen müssen sich wohlfühlen", sagt Ingo Breuker. Dazu gehört auch der Freiraum. Der Bach "Dietenbach", der dem Stadtteil seinen Namen gibt und quer durchs Gebiet fließt, soll sich in eine Erlebnislandschaft verwandeln.
"All diese unterschiedlichen Aspekte zusammen zu denken, ist sicherlich eine der größten Herausforderung bei den Planungen", so Ingo Breuker. Es gebe viele Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Themen, die berücksichtigt werden müssten.
"Es ist mehr als nur ein Wohngebiet, das wir planen. Es entsteht im Grunde eine komplett neue Kleinstadt mit verschiedenen Quartieren." Ingo Breuker, stellvertretender Leiter der "Projektgruppe Dietenbach"
Flexibilität bietet die Stadtteilplanung auch deshalb, weil nicht alles auf einen Rutsch entwickelt wird, sondern sechs Bauabschnitte vorgesehen sind. Das schafft die Möglichkeit, im Laufe der Quartiersentwicklung Dinge zu verändern und aktuellen Anforderungen anzupassen. Aber selbstverständlich lasse sich nicht alles im Nachhinein noch ändern, sagt Breuker: Bei vielen Aspekten müssten die Planer das Risiko eingehen und gewisse Entscheidungen treffen, auch auf die Gefahr hin, dass diese sich im Nachhinein als falsch herausstellen.
Als Beispiel nennt er die Brunnen, die für die Grundwasserwärmung im Energiekonzept notwendig sind. Diese sollen von Anfang an so dimensioniert werden, dass sie für den ganzen Stadtteil ausreichen, um eine spätere Nachrüstung zu vermeiden. Sollten sich jedoch nach dem ersten Bauabschnitt Probleme bei dieser Art der Wärmeversorgung herausstellen, hätte man die Brunnen womöglich umsonst angelegt.
Baumabholzungen und Bürgerentscheid
Auseinandersetzen muss sich die Projektgruppe auch mit Kritik aus der Bevölkerung, die es trotz einer umfangreichen Bürgerbeteiligung gibt. Aktueller Hauptkonfliktpunkt ist das Langmattenwäldchen: Ein bestehendes Waldstück, das in Teilen zugunsten von Straßenbahntrasse und Sportflächen des neuen Stadtteils gerodet werden soll. Ein Unding in Zeiten des Klimawandels, meint eine Bürgerinitiative und hat tausende Unterschriften gesammelt. Zudem haben Aktivisten im Juni Bäume besetzt, um für deren Erhalt zu kämpfen.
Umstritten waren die Planungen für einen neuen Stadtteil in Freiburg von Anfang an. Es gab Widerstand gegen die Bebauung einer Fläche, die aktuell größtenteils landwirtschaftlich genutzt wird. Die Bauern fürchteten um ihre Existenz und argumentierten, dass landwirtschaftliche Flächen für die regionale Versorgung wichtig seien. Zudem wehrten sich die Kritiker gegen die generelle Flächenversiegelung und den Einfluss auf das Stadtklima. Es gab Debatten um die Finanzierbarkeit sowie um die Frage, ob zusätzlicher Wohnraum nicht besser durch Nachverdichtung bestehender Quartiere geschaffen werden solle statt auf der "grünen Wiese". Am Ende kam es zu einem Bürgerentscheid, der im Februar 2019 mit 60 Prozent pro Dietenbach ausging.
Bis der neue Stadtteil in Freiburg tatsächlich Realität ist, wird es allerdings noch dauern. Der Start der Erschließung des ersten Bauabschnitts ist nach aktuellem Zeitplan für 2023 vorgesehen, zwei Jahre später soll mit dem Bau der ersten Häuser begonnen werden. Entstehen werden im ersten Schritt 1.600 neue Wohnungen.
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