Kann der Vater die BU-Versicherung des Kindes dem Sozialhilfeträger-Zugriff entziehen?
Ein Vater hatte im Jahr 2002 für seine damals 17-jährige Tochter als versicherte Person eine Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Im Mai 2009 stellte die Versicherung rückwirkend zum November 2006 die Berufsunfähigkeit (BU) der Tochter fest.
Versicherung zahlte rückwirkend die Berufsunfähigkeitsrente
Die Versicherung zahlte rückwirkend die Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 1224 EUR aus. Zuerst erfolgte dies direkt an die Tochter, die zwischenzeitlich zur Sozialhilfeempfängerin geworden war. Nachdem der Vater das Bezugsrecht seiner Tochter widerrufen hatte, zahlte die Versicherung die BU-Rente seit März 2013 an den Vater aus.
Sozialhilfeträger erhebt Anspruch auf an den Vater geflossenen Versicherungsleistungen
Als der Sozialhilfeträger von den Zahlungen aus der BU-Versicherung erfuhr, verlangte er von dem Vater für die bisher erbrachten Sozialhilfeleistungen gegenüber der Tochter die Zahlung von insgesamt gut 56.000 EUR für den Zeitraum vom März 2013 bis zum Dezember 2016.
Berufungsgericht sah keinen Rückforderungsanspruch des Sozialhilfeträgers wegen BU-Versicherungsleistungen
Das Berufungsgericht sah keinen Anspruch gegenüber dem Vater aus von der Tochter auf den Sozialhilfeträger übergegangenem Recht. Die Tochter hatte nach Ansicht des Gerichts weder
- einen Bereicherungsanspruch gegen ihren Vater
- noch einen Auskehrungsanspruch aus einem versicherungsrechtlichen Treueverhältnis
- noch Ansprüche aus einem Ausstattungsversprechen gemäß § 1624 Abs. 1 BGB.
Das Gericht den Versicherungsvertrag dahingehend ausgelegt, dass es kein Vertrag für fremde Rechnung sei. Für diese Annahme reiche die Benennung der Tochter als versicherte Person nicht aus. Da sich der Vater zur Prämienzahlung verpflichtet habe, sei nach § 80 Abs. 1 VVG a.F. davon auszugehen, dass er sein eigenes Interesse versichert habe, zumal er gegenüber seiner Tochter grundsätzlich unterhaltsverpflichtet sei. Als Versicherungsnehmer jederzeit ohne Einschränkung über die Bezugsberechtigung verfügen können.
BGH sieht Vorliegen einer Fremdversicherung
Der BGH sah das anders. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht das Vorliegen einer Fremdversicherung und damit einen Auskehrungsanspruch der Tochter des Beklagten gegen diesen verneint. Grund: Mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit und damit dem Versicherungsfall könne das widerruflich eingeräumte Bezugsrecht auch für zukünftige, berufsunfähigkeitsbedingte Rentenleistungen nicht mehr widerrufen werden.
Abgrenzung einer Eigenversicherung von einer Fremdversicherung
Für die Abgrenzung zwischen einer Eigenversicherung des Versicherungsnehmers, in der die versicherte Person lediglich Gefahrperson ist und einer Versicherung für fremde Rechnung komme es entscheidend auf den Inhalt der getroffenen Vereinbarungen an und auf die nach diesen Vereinbarungen geschützten Interessen.
- Von einer reinen Eigenversicherung des Versicherungsnehmers sei auszugehen, wenn dieser sich nur gegen eigene wirtschaftliche Einbußen schützen wolle, die für ihn mit dem Eintritt des Versicherungsfalls verbunden wären. In einem solchen Fall bleibt die versicherte Person nur Gefahrperson, der aus dem Versicherungsvertrag keine eigenen Rechte erwachsen (vgl. BGH, Urteil v. 08.02.2006, IV ZR 205/04).
- Eine Versicherung für fremde Rechnung liege dagegen vor, wenn mit dem Vertrag ausschließlich oder jedenfalls neben dem Eigeninteresse des Versicherungsnehmers auch das eigene Interesse der versicherten Person versichert werden solle.
Hier sollten nach Ansicht des BGH der versicherten Person, also der Tochter, direkt aus dem Versicherungsvertrag Versicherungsleistungen zugewendet werden.
Eigenes wirtschaftliches Interesse des Versicherungsnehmers schließt Fremdversicherung nicht aus
Soweit die Versicherung daneben möglicherweise auch im eigenen wirtschaftlichen Interesse des Versicherungsnehmers gelegen haben kann, so wie im vorliegenden Fall wegen einer möglichen Ersparnis von Unterhaltsleistungen, schließt das zusätzliche Vorhandensein eines solchen Interesses das Bestehen einer Fremdversicherung nicht aus.
Das sprach nach Ansicht des BGH für eine Fremdversicherung
Nach Einschätzung des BGH lag im vorliegenden Fall eine Versicherung für fremde Rechnung aus folgenden Gründen vor: Bei einer Absicherung von Familienmitgliedern vor den Folgen gesundheitlicher Beeinträchtigungen könne nicht davon ausgegangen werden, dass diese nur im Interesse des Versicherungsnehmers liege.
Das gelte auch dann, wenn die gesundheitlichen Beeinträchtigungen wegen unterhaltsrechtlicher Pflichten negative finanzielle Folgen für den Versicherungsnehmer haben könnten.
BU-Versicherung begründet gesetzliches Treuhandverhältnis zugunsten der versicherten Person
Das Vorliegen einer Fremdversicherung zugunsten der versicherten Person bei gleichzeitiger Anwendbarkeit der §§ 74 ff. VVG a.F. führt zunächst dazu, dass im Versicherungsfall materiell dem Versicherten die Leistung zusteht., er dieses Recht jedoch gegenüber dem Versicherer in der Regel nicht durchzusetzen vermag, weil die Verfügungsbefugnis weiter beim Versicherungsnehmer liegt. (§75 Abs. 2 VVG a.F.; heute: § 44 Abs. 2 VVG).
Dieses Verfügungsrecht über die Rechte des Versicherten aus dem Versicherungsvertrag stehe dem Versicherungsnehmer aber nur zu treuen Händen zu, es handele sich um ein gesetzliches Treuhandverhältnis.
Konsequenzen aus dem Treuhandverhältnis:
- Diese Treuhandstellung verbietet es dem Versicherungsnehmer, die ihm nicht zustehende Versicherungsleistung für sich zu behalten.
- Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, die Versicherungsleistung an den sachlich berechtigen Versicherten auszukehren.
Widerruflichkeit des Bezugsrechts für die BU-Versicherung
Zur Widerruflichkeit eines Bezugsrechts in der Berufsunfähigkeitsversicherung, führte der BGH aus: Das der Tochter eingeräumte Bezugsrecht war nach Eintritt des Versicherungsfalls im Jahr 2006 nicht mehr widerruflich, weil die Tochter den Anspruch auf die Versicherungsleistung gegen den Versicherer mit Eintritt des Versicherungsfalls entsprechend § 166 Abs. 2 VVG a.F. (heute: §§ 176, 159 Abs. 2 VVG) bereits erworben hatte.
Fazit: Der Vater durfte die Zahlungen des Versicherers nicht einbehalten, auch dann nicht, wenn er sie möglicherweise für seien Tochter sichern wollte.
(BGH, Urteil v. 15.07.2020, IV ZR 4/19).
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