Gesamtwiderruf durch das Zerreißen eines von zwei identischen Testamenten
Bis zum letzten Atemzug kann sich jeder Mensch entscheiden, wem er sein Erbe vermachen möchte. Er kann Testamente schreiben und sie wieder vernichten oder ändern.
Testament kann jederzeit grundlos widerrufen oder geändert werden
Einen Grund oder eine Erklärung braucht der Erblasser für eine Änderung nicht (§§ 2253, 2254, 2255 BGB). Was bei seinem Tod zählt, ist die letzte von ihm unterschriebene Version seines Testaments, es sei denn die Umstände sprechen – wie offenbar in diesem Fall - dagegen, dass es sich um seinen letzten Willen handelt.
Zwei Original-Testamente mit gleichem Inhalt
Die Erblasserin, mit deren Fall sich das OLG Köln beschäftigte, hatte ihren Wunsch, wer in den Genuss ihres Erbes kommen sollte, mehrfach geändert. Erst setzte sie ein Testament auf, in dem sie ihren Urenkel als einzigen Erben einsetzte. Später schrieb sie ein neues, in dem sie ihre Haushälterin zur Alleinerbin bestimmte. Dieses Testament zerriss sie dann noch später vor den Augen ihres Rechtsanwalts.
Erbstreit entbrannte, als die Haushälterin nach dem Tod der Erblasserin ein weiteres Original des sie begünstigenden Testaments vorlegte.
Gericht erforscht den wahren Willen der Erblasserin
Das Nachlassgericht schaute sich vor seiner Entscheidung, dem Urenkel den Erbschein auszustellen, die Umstände des Falles genauer an. Dabei fand es heraus, dass es sich die Haushälterin mit der Verstorbenen offenbar durch einen massiven Vertrauensbruch verscherzt hatte und sie deshalb wieder enterbt hatte.
Haushälterin erhielt schon zu Lebzeiten der späteren Erblasserin Vorteile
Die Haushälterin wurde – als die Dinge noch gut standen – nicht nur im Testament begünstigt, sie erhielt auch eine Vorsorge- und Bankvollmacht der alten Dame. Außerdem verkaufte sie ihr ihr Hausgrundstück. Im Gegenzug sollte die Haushälterin einen Betrag X in bar zahlen und verpflichtete sich, die ca. 90-Jährige zu betreuen und zu pflegen.
Nach Vertrauensbruch folgte die umfassende Trennung
Die Haushälterin konnte sich mit dem Zugriff auf das zu erwartende Erbe nicht gedulden. Mit der Bankvollmacht hob sie ohne Erlaubnis der späteren Erblasserin 50.000 Euro von deren Konto ab. Als diese von der Geldabhebung hinter ihrem Rücken erfuhr, widerrief sie die Vollmacht und ließ sich von ihrem Rechtsanwalt zur Rückabwicklung des Kaufvertrags beraten.
Außerdem zerriss vor seinen Augen das die Haushälterin begünstigende Testament, sagte ihm gleichzeitig, sie wolle an dieser Erbeinsetzung nicht festhalten (→ Mündliche Erklärungen des Erblassers) und brach den Kontakt zur Haushälterin ab.
Abkehrwille vom Testament deutlich, aber wohl nicht an zweites Original gedacht
Das waren dem Nachlassgericht und dem OLG Köln, das über die Beschwerde der Haushälterin zu entscheiden hatte, genug Anhaltspunkte für einen definitiven Abkehrwillen. Dass die Erblasserin sich nicht auch um die Vernichtung des zweiten Exemplars kümmerte, werteten sie als „schlicht vergessen“ und verwiesen insoweit auf das fortgeschrittene Alter der Frau.
(OLG Köln, Beschluss v. 22.4.2020, 2 Wx 84/20).
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Hintergrund: Testamentsauslegung
Vorrangiges Ziel jeder Auslegung ist es, den tatsächlichen Willen des Erblassers zu ermitteln. Hierfür ist der Zeitpunkt der Errichtung der letztwilligen Verfügung maßgebend. Letztlich ist aus Sicht des Erblassers festzustellen, was dieser mit seiner Niederlegung sagen wollte (BGH, Urteil v. 07.10.1992, IV ZR 160/91). Die maßgebliche Vorschrift ist hierfür zunächst § 133 BGB. Aufgrund der Formbedürftigkeit der Verfügung von Todes wegen darf durch Auslegung aber kein anderer Wille des Erblassers ermittelt werden als der, der zumindest andeutungsweise im Testament enthalten ist. Es gilt hier die von der Rechtsprechung entwickelte "Andeutungstheorie". Jede Auslegung ist dahingehend zu überprüfen, ob der ermittelte Wille auch hinreichend im Testament verankert ist bzw. es Anhaltspunkte dafür bietet.
Dennoch sind nicht nur die einzelnen Worte und Redewendungen, die der Erblasser benutzt hat, maßgebend. So sind zur Erforschung des tatsächlichen Willens des Erblassers auch außerhalb der Urkunde liegende Umstände, die allgemeine Lebenserfahrung und alle sonstigen Erkenntnismittel für die Auslegung heranzuziehen, sofern sie in der Verfügung von Todes wegen eine Verankerung finden.
Soll bei der Auslegung vom Wortlaut abgewichen werden, so müssen hierfür besondere Umstände vorliegen, aus denen sich ergibt, dass der Erblasser mit dem Gesagten etwas anderes gemeint hat.
Ist der tatsächliche Wille des Erblassers trotz Auslegung nicht festzustellen, so ist in einem weiteren Schritt der mutmaßliche Wille des Erblassers zu ermitteln bzw. ist der Inhalt der Verfügung dahingehend auszulegen.
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